Max Privorozki schaltet als einziger sein Handy nicht in den Flugmodus während des Videodrehs. Das gehe nicht mehr, sagt er. Seit dem Anschlag auf die Synagoge in Halle am 9. Oktober 2019 muss er immer erreichbar sein. Er setzt sich an den Konferenztisch im jüdischen Gemeindezentrum, ihm gegenüber Martin Machowecz von der Zeit im Osten. Es ist nicht ihr erstes Gespräch, schon öfter haben sie sich in Halle getroffen.
Was passierte in Halle?
Am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur versucht ein 27-jähriger Rechtsextremist mit Waffengewalt in die Synagoge in Halle an der Saale einzudringen. Er schießt mehrfach auf die verschlossene Eingangstür und wirft Sprengsätze. In der Synagoge sind zu diesem Zeitpunkt 51 Menschen. Sie können das Geschehen teilweise über die Überwachungskameras verfolgen.
Die massive Holztür bleibt verschlossen. Der 27-Jährige erschießt die Passantin Jana L. auf der Straße vor der Synagoge. Über eine Helmkamera streamt er seine Tat live ins Netz. Er steigt in sein Auto, fährt weiter bis zum Imbiss „Kiez-Döner” und tötet dort den Gast Kevin S.
Er liefert sich einen Schusswechsel mit der Polizei, wobei er selbst verletzt wird. Dann flüchtet er in seinem Auto. In Wiedersdorf bei Halle schießt er auf zwei weitere Personen. Er flieht weiter, verursacht auf einer Bundesstraße einen Unfall, läuft zu Fuß weiter und wird um 13:38 Uhr von zwei Polizisten festgenommen.
Wie berichteten Journalist*innen?
Die Medien reagieren schnell. Der MDR startet seinen Liveticker weniger als eine Stunde nach den ersten Schüssen auf die Synagogentür.
In den Tagen danach fällt uns bei der Berichterstattung auf: Sehr oft steht der Täter im Mittelpunkt. Wie stark sich die Medien tatsächlich auf den Täter konzentrierten, wird unterschiedlich bewertet. Medienwissenschaftlerin der Universität Halle, Maren Schuster, sagt: „Ein Fehler, der gemacht wurde, ist eine täterbasierte Berichterstattung, die auch der Täterinszenierung zugearbeitet hat.” Schuster sagt, dass dadurch die ideologischen Hintergründe der Tat in den Mittelpunkt gestellt wurden. Verallgemeinern und auf alle berichtenden Medien beziehen, könne man dieses Problem aber nicht.
Der Journalismusforscher und Publizist Tanjev Schultz sieht zwar auch eine intensive Berichterstattung über den Tathergang, aber weniger über den Täter. Er habe die Berichterstattung um einiges sensibler erlebt als bei rassistisch motivierten Hassverbrechen in den Jahren zuvor: „Etliche Medien haben sich bemüht, mit der speziellen Situation eines rassistischen Täters, der sich auch noch selbst filmt, sensibel umzugehen und ihn nicht übermäßig zu zeigen.” Auch seien einige Medien mit der Nennung des Namens vorsichtig umgegangen. Zudem hätten viele Medienhäuser das Video des Täters nicht weiter verbreitet und seien bei der bildlichen Darstellung des Täters dezenter und zurückhaltender vorgegangen als in der Vergangenheit. Schultz spricht aber auch davon, dass er es „nicht völlig verwerflich findet”, über den Täter zu berichten - zumindest in Teilen. „Ich denke schon, dass man die Hintergründe wissen will und auch ergründen sollte, aber es ist natürlich auch immer eine Frage des Wie.” Schultz hat den Eindruck, dass besonders große Medien in ihrer Berichterstattung von Hassverbrechen schon vorsichtiger und sensibler geworden sind.
Bild und ARD entscheiden sich, Sequenzen der Helmkamera vom Täter zu zeigen. Die Bild erhält dafür eine Rüge vom Presserat: „Die Redaktion verstieß damit gegen Richtlinie 11.2 des Pressekodex, wonach die Presse sich nicht zum Werkzeug von Verbrechern machen darf. In dem Video unter dem Titel ‘35 Minuten Vernichtungswahn’ ordnete ein Reporter die gezeigten Sequenzen zwar ausführlich ein, jedoch übernahm die Redaktion die Dramaturgie des Täters, indem sie seine Vorgehensweise chronologisch vom Laden der Waffen bis hin zu den Sekunden vor und nach den Mordtaten zeigte.”
Doch verschiedene Medien zeigen auch einen selbstkritischen Umgang. „Es gab ja im Nachgang von verschiedenen Medien eine kritische Auseinandersetzung mit der Medienberichterstattung selbst”, sagt Maren Schuster von der Uni Halle. Ein Beispiel sei ein Beitrag von Deutschlandfunk Kultur mit Nikolaus Blome als Gast. Es geht um die Frage, inwiefern die Aufnahmen des Täters gezeigt werden sollten. Blome ist zum Zeitpunkt des Anschlages stellvertretender Chefredakteur der Bild. Auch andere Medien fragen sich, inwiefern Informationen über den Täter und die Tat sinnvoll oder gefährlich sein können.
Schuster lobt die kurzfristige Reflexion, doch bei der Berichterstattung über rechtsextreme Angriffe fehlt ihr der lange Atem in den Redaktionen: „Es sind in diesem Jahr nicht weniger Übergriffe und trotzdem stehen im Zentrum der Berichterstattung Corona und die wirtschaftlichen Folgen.”
Noch immer sieht man die Einschusslöcher in der Holztür der Synagoge in Halle.
Vor der Begegnung
Vor ihrem Treffen haben sich Privorozki und Machowecz per E-Mail über die Berichterstattung zum Anschlag in Halle ausgetauscht. Max Privorozki fühlte sich von manchen Journalist*innen bedrängt. Martin Machowecz fragte sich: Wie kann man genau das verhindern?
Bei manchen Korrespondenten – insbesondere gleich nach dem Anschlag – gab es übertriebene Aufdringlichkeit, oft ohne Rücksicht auf unseren Zustand nach dem Anschlag und auf die Gebote/Verbote der jüdischen Religion.
Max Privorozki
Ich habe mir viele Gedanken darüber gemacht, wie man die Recherchen rund um den Anschlag so gestalten kann, dass die Gemeinde trotzdem Raum zum Trauern hat,
nicht bedrängt wird.
Martin Machowecz
Die Begegnung
Es ist ein warmer Frühsommerabend. Eigentlich soll das Gespräch 45 Minuten dauern, aber es werden über eineinhalb Stunden, denn die Gesprächspartner haben viel zu diskutieren: Recherche, Kontaktaufnahme, Berichterstattung – es ist einiges schiefgelaufen. Manche Journalist*innen erklärten aus Sicht von Max Privorozki nicht ausführlich genug, was sie vorhatten. Andere drängten ihn zu Gesprächen, die er nicht führen wollte, und manchmal fühlte sich Privorozki falsch wiedergegeben. In solchen Situationen können Journalist*innen vieles besser machen.
Das Gespräch zum Nachlesen
Max Privorozki: Damals am 10. Oktober, ich werde das nie vergessen, am Tag danach sehr früh, habe ich vor der Synagoge ein Bild gesehen … Kameras, mit großen Antennen … das war für mich wirklich etwas, das ich vorher nur in Filmen gesehen habe und nicht live.
Martin Machowecz: Ich hatte damals schon an den ersten Tagen durchaus das Gefühl, dass Sie da ganz schön bedrängt sind, weil da so viele Journalisten waren und so viel Aufmerksamkeit auf diesem Anschlag war, dass man nur Respekt haben kann, wie Sie das damals durchgehalten haben.
Privorozki: Also eigentlich hatte ich keine andere Wahl, ich musste mit der Presse sprechen. Ich finde, dass die Presse insgesamt eine sehr große, wichtige Rolle spielt. Manchmal ist diese Rolle positiv, manchmal auch nicht. Es war eine schwierige Zeit, und die Interviews, die ich gegeben habe, waren wahrscheinlich ein bisschen hysterisch. Jetzt empfinde ich das so. Ich weiß noch, dass ich aufgeregt war, sehr aufgeregt. Wenn ich jetzt mit der Presse spreche, bin ich überhaupt nicht aufgeregt. Das ist zum einen Teil die Erfahrung und zum anderen, dass ich auch etwas gelernt habe. Zum Beispiel habe ich gelernt, dass es ganz wichtig ist, dass ich erst darüber informiert werden muss, was geplant ist.
Ich kann mich an einen Fall mit der Süddeutschen Zeitung erinnern: Ich wurde von einem Korrespondenten angerufen, er hat mir Fragen gestellt, ich habe geantwortet. Das war alles. Dann kommt der Artikel in der Süddeutschen Zeitung, und aus diesem Artikel scheint es, als würde ich auf gepackten Koffern sitzen und morgen nach Israel emigrieren. So haben Leute das zumindest verstanden. Am nächsten Tag kam mein Enkel von der Schule und fragte: „Opa, ziehst du nach Israel?“ Ja, das war das Ergebnis eines Gesprächs mit jemandem am Telefon, der einfach das, was ich gesagt habe, ein bisschen umgestellt hat. Eigentlich hat er nichts von sich genommen und alles, was er geschrieben hat, stimmt auch, aber er hat Teile weggenommen und die Akzente ein bisschen verändert.
Machowecz: Ich glaube, wir Journalisten sind in solchen Situationen in einer besonderen Verantwortung. Wir sind natürlich – wie Sie das von sich auch schildern – in so einem Moment, wenn ein Anschlag passiert ist, wenn wir da hingeschickt werden von unseren Redaktionen, auch irgendwie unter Stress. Wir müssen dann an einen Ort, dort sind ganz viele Kollegen, es ist eine unübersichtliche Lage, man kann die Situation nicht so richtig einschätzen und man hat trotzdem die Erfordernis, dass man irgendwas abliefern muss: einen Text, Fotos, oder Beiträge für die Nachrichten. Daraus erwächst eine Verantwortung für uns: Wir müssen einfach aufpassen, dass hinter der Geschichte immer Menschen stehen, die gerade etwas erlebt haben, das sie in ihrem Leben bisher nie erlebt haben und hoffentlich auch nie wieder erleben werden. Menschen, die in einer absoluten Ausnahmesituation sind und die wir schützen müssen. Diesen Balanceakt hinzubekommen, ist nicht immer einfach.
Ich ärgere mich natürlich, wenn Sie sagen, dass es da Leute in meinem Beruf gibt, die Grenzen verletzt haben nach Ihrem Gefühl. Das finde ich überhaupt nicht gut. Es gibt immer wieder Situationen und Momente, in denen sich ganz viele Journalisten auf einen Ort konzentrieren und die Leute dort sozusagen verhören und sie mit ganz vielen Fragen konfrontieren. Mir fällt auf, dass wir immer wieder Unsicherheiten bei vielen Leuten auslösen und, dass die Journalisten, die von außen kommen, sich manchmal nicht so richtig klar machen, dass sie an diesem Ort eine Erfahrung hinterlassen, wenn sie wieder weg sind. Jemand, der einmal eine schlechte Erfahrung mit Journalisten gemacht hat, der trägt das sehr lange mit sich herum.
Privorozki: Ich verstehe, dass nicht alle Journalisten gut über das Judentum und jüdische Bräuche und Regeln informiert sind, aber die einfachsten Sachen kann man auf dem Weg nach Halle nachlesen. Warum sage ich das? Es gab ein paar Beispiele: Journalisten haben versucht, uns am Sabbat zu stören, weil sie unbedingt Interviews machen wollten. Ich kann mich erinnern, es war ein ganz normaler Samstag für Nichtjuden, und wir hatten einen Gottesdienst in der Synagoge. Einige Korrespondenten hatten wahrscheinlich den Auftrag, weiter Interviews zu machen, und haben fast die Türe durchgebrochen, um reinzukommen. Ich habe versucht, ihnen zu erklären, heute ist Sabbat, heute geht es nicht, aber die hat das nicht interessiert, die wollten jetzt mit mir sprechen.
Machowecz: Ich verstehe das natürlich, wenn das Wissen nicht da ist, ist das schlimm genug, aber wenn der Respekt nicht da ist, man auch ein Nein nicht akzeptiert, dann ist das ein echt großes Problem und da kann man sich nur wünschen, dass das eine absolute Ausnahme ist und die Kollegen ...
Privorozki: Ja, das war eine Ausnahme. Aber diese Ausnahmen bleiben im Kopf.
Machowecz: Ich habe auch schon in Gesprächen miterlebt, dass viele Kollegen (mich eingeschlossen) natürlich unsicher sind, weil das ist für viele kein Thema, mit dem sie sich jeden Tag beschäftigen. Was würden Sie sich von mir wünschen, wie ich über den Prozess berichten soll?
Privorozki: Was ich mir insgesamt von den Medien wünsche ist, dass ganz klar ersichtlich sein muss, was eine Reportage ist, die über das Ereignis mit Fakten berichtet und Meinungen weglässt. Ihre Meinung, meine Meinung und die der Redaktion. Sie beleuchten, was los ist und was jetzt passiert. Das ist eine Sache. Etwas anderes sind Kommentare: Hier müssen Sie es so machen, dass jeder, der sich diesen Kommentar ansieht, anhört oder liest, versteht, dass er keine Nachricht ist, sondern ein Kommentar. Es ist ganz wichtig, dass Journalisten verstehen, dass sie einen großen Einfluss haben. Sie haben auf die öffentliche Meinung einen großen Einfluss, und diesen Einfluss muss man wirklich vorsichtig nutzen.
Im Kiez-Imbiss in Halle ist am Tag des Anschlags ein Mensch gestorben.
Der Rückblick
Was nehmen Max Privorozki und Martin Machowecz aus der Begegnung mit? Einige Tage nach dem Gespräch haben wir sie gebeten, uns das zu erzählen.
Max Privorozki: „Das Gespräch war interessant: Ich konnte meine Vorstellung über die Arbeit von Journalisten mit Menschen, die nach einem Anschlag unter enormen Stress stehen, mitteilen.”
Martin Machowecz: „Es ist enorm wichtig, dass wir Journalisten uns der Verantwortung bewusst sind, die wir tragen, wenn wir über eine aktuelle Krise, gar einen Anschlag wie jenen von Halle berichten. Wir sind nicht nur im Dienst unserer Leser unterwegs - sondern wir müssen auch die Opfer schützen, ihre Familien, ihre Geschichten. Wir Reporterinnen und Reporter reisen irgendwann wieder ab aus so einem Ort, an dem ein Verbrechen geschehen ist. Doch wie wir uns während der Recherchen verhalten haben - das wirkt an diesem Ort lange nach.”