Hanau 2020

Webstory für besseres Berichten
bei rassistischen Hassverbrechen

Es ist ein Mittwoch, 126 Tage nach dem 19. Februar 2020. „Die Opfer waren keine Fremden!” steht auf einem riesigen Banner an der Fassade des Hanauer Rathauses. Im Gebäude, in einem Zimmer direkt unter dem Dach: weiße Tische, schwarze Stühle, die Luft steht. Armin Kurtović hat einen Aktenordner mitgebracht, auf dem nur ein Wort steht: Hamza. Der Name seines Sohnes. Im Ordner liegt der Bericht über die polizeiliche Leichenschau von Hamza Kurtović. Es ist die Akte des rassistischen Anschlags, bei dem Hamza und acht weitere Menschen getötet wurden.

Die Angehörigen der Getöteten haben inzwischen ein gespaltenes Verhältnis zu den Medien. Nach dem Anschlag haben Journalist*innen sie an der Haustür bedrängt und teilweise falsche Angaben zu den Opfern veröffentlicht. Der Täter hat mehr Raum in den Medien bekommen als die Opfer und ihre Communities. Das hat viel Vertrauen zerstört. Nur noch selten reagieren die Familien auf Presseanfragen.

Was passierte in Hanau?

Am 19. Februar 2020 wurden neun Menschen bei einem rassistischen Anschlag in Hanau getötet. Sechs weitere Menschen erlitten Schussverletzungen. Noch in der Nacht tötete der Täter seine Mutter und sich selbst.

Mit #SayTheirNames stellten Betroffene, Hanauer*innen und Menschen in ganz Deutschland auf Social Media die Namen und Geschichten der Getöteten in den Vordergrund. Bundesweit kam es zu Solidaritätsbekundungen und Mahnwachen.

Fatih Saraçoğlu, Vili Viorel Păun, Kaloyan Velkov, Ferhat Unvar, Mercedes Kierpacz, Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Hamza Kurtović und Said Nesar Hashemi heißen die Getöteten des 19. Februar.

Von Beginn an haben sich Angehörige und die Communities der Betroffenen dafür eingesetzt, die Opfer beim Namen zu nennen und ihre Geschichten zu erzählen.

Wie berichteten Journalist*innen?

Falsche Namen und Biografien der Getöteten, Spekulationen und Fokussierung auf den Täter waren Teil der Berichterstattung in den Tagen nach dem Anschlag. 

Die meisten Fehler in der Berichterstattung sind noch in der Tatnacht oder am darauffolgenden Tag passiert. So spekulierte BILD TV in einer nächtlichen Live-Sendung über einen möglichen Zusammenhang der Tat mit organisierter Kriminalität und mutmaßte, es gebe weitere flüchtige Täter. Auch die gewählten Begriffe in vielen Berichten waren problematisch. Focus Online schrieb zwischenzeitlich von „Shisha-Morden“ – eine Wortschöpfung, die an den Begriff „Döner-Morde” erinnert.  

Auch die Berichterstattung über Hanau spiegelte stark die Begriffswahl der ermittelnden Behörden wider. Nachrichtenagenturen schrieben am Morgen nach der Tat mit Verweis auf die Bundesanwaltschaft von Anhaltspunkten für eine „fremdenfeindliche” beziehungsweise „ausländerfeindliche Motivation“. Unter anderem die Tagesschau und ZDF Heute übernahmen anfangs diese Begriffe. Obwohl die Bundesanwaltschaft noch am selben Tag präzisierte, es gebe „gravierende Indizien für einen rassistischen Hintergrund der Tat“, beschrieb das ZDF das Tatmotiv auch im Teaser seines Rückblick-Films im Mai als „Fremdenfeindlichkeit“. Die Neuen deutschen Medienmacher*innen und die Amadeu-Antonio-Stiftung haben dazu angemerkt: Die Opfer eines rassistisch motivierten Anschlags als Fremde zu bezeichnen greife die Perspektive des Täters auf und sei deshalb problematisch.  

Besonders zu Anfang konzentrierten viele Journalist*innen ihre Recherchen auf den Täter und seinen Hintergrund und veröffentlichten teils sogar Ausschnitte aus der Videobotschaft des Täters. Medienforscher*innen warnen immer wieder, dass Berichte über Täter*innen zu Nachahmungstaten führen können. 

Wenige Tage nach dem Anschlag kritisierten mehrere Journalist*innen den Täterfokus einiger Medien, und besonders Zeit Online und die taz begannen, Opfer und Betroffene ins Zentrum ihrer Texte zu stellen. 

Mehrheitlich ehrenamtliche Helfern*innen haben mit der „Initiative 19. Februar” und dem Verein „Institut für Toleranz und Zivilcourage – 19. Februar Hanau” dafür gesorgt, dass die Opfer des 19. Februar in ganz Deutschland erinnert werden. Am 19. Juni wurde unter der Frankfurter Friedensbrücke ein 27 Meter langes Graffito mit ihren Gesichtern enthüllt. 

Die Angehörigen fordern von den Behörden, Vorgeschichte und Hintergründe des Anschlags ans Licht zu bringen. Die Behörden müssten erklären, was im Vorfeld versäumt wurde. Die Angehörigen treibt die Frage um: Hätte der Anschlag am 19. Februar verhindert werden können? 

Eine Berichterstattung zu möglichem Behördenversagen, von dem die Angehörigen ausgehen, gibt es bisher kaum.

Gedenkort an einem der Tatorte in Hanau

Vor der Begegnung

Vor ihrem Treffen haben wir mit Armin Kurtović und Yvonne Backhaus-Arnold telefoniert, um Vertrauen aufzubauen und das Ziel von #imgespräch genau zu erklären. Wir wollten wissen: Was erhoffen sie sich von dieser Begegnung?

Das sagt Armin Kurtović

„In den ersten Tagen hatte ich keinen Kopf dafür, die Medien zu verfolgen. Das Haus war voller Leute, die Trauer, der Schock. Wir haben drei Monate den Fernseher ausgeschaltet. Später haben uns Angehörige Zeitungen mitgebracht, damit wir im Blick haben, was da geschrieben wird. Da standen derart falsche Sachen drin.

Journalisten sollen die Dinge so niederschreiben, wie sie sind. Nicht so, wie ich [als Betroffener] sie sehe, sondern so, wie sie sind. Sie sollten vorher mit den Familien sprechen und schreiben: Wer waren diese Opfer, was haben sie [in ihrem Leben] gemacht? Über [den getöteten] Said Nesar Hashemi wurde irgendwo geschrieben, er sei ein Flüchtling. Sie haben nicht mal seinen Namen richtig geschrieben. El Hashemi haben die geschrieben. Jeder macht Fehler. Das ist menschlich. Aber das sind so gravierende Sachen – das ist, als würde man auf das Opfer spucken.

Nach jedem Anschlag spricht man nur über die Täter. Die bekommen eine Publicity, die sie nicht verdienen. Über die Opfer, über das, was der Täter hier angerichtet hat, darüber redet keiner.

Mit einem „Tut mir leid“ [der Medien] ist es nicht getan. Hier sind neun unschuldige Menschen in zwölf Minuten gestorben. Rassismus wird es immer geben, machen wir uns nichts vor. Aber man muss versuchen, ihn im Kern zu ersticken. Trotzdem ist Rassismus heute in der Gesellschaft normal. Was Pegida von sich gibt, was die Politiker der AfD von sich geben.

Die einzigen Reporter, die am Anfang mit mir gesprochen haben, waren Leute von Al Jazeera und ein bosnischer Reporter, den ich persönlich kenne. Was ich damals gesagt habe, gilt genauso heute noch: Ich bekomme es nicht in meinen Kopf rein, wie viel Hass ein Mensch in sich tragen kann, dass dieser Hass den Verstand aussetzen lässt. Woher hat er das Recht, jemandem das Leben zu nehmen, den er nicht einmal kennt?

Auch ein Reporter vom Stern hat mir geschrieben. Der Mann war sehr nett, hat sich entschuldigt und wollte sicherstellen, dass er nicht aufdringlich ist. Das war alles okay. Ein Reporter von RTL wollte etwas über meinen Sohn wissen. Ich habe ihm gesagt, er solle in der Stadt fragen, wer mein Sohn war, zu seinem Arbeitgeber gehen. Ich muss mich nicht schämen für meinen Sohn. Er hat niemandem geschadet, er hat auch niemanden umgebracht, und wenn er helfen konnte, hat er es getan.

Aber in den ersten Tagen kamen auch Journalisten mit Kameras an unsere Haustür und haben geklingelt. Mein älterer Sohn hat die Tür auf- und gleich wieder zugemacht. Sie wollen ja auch nur eine Story haben. Aber das ist nicht in Ordnung. Sie verstehen nicht, dass man unter Schock steht und nicht weiß, was man sagen soll.

Es muss Reporter und Berichterstattung geben. Das ist auch gut so. Die Menschen sollen erfahren, was passiert ist. Die Journalisten sollen aber nicht nur einseitig berichten, die sollen die Wahrheit schreiben. Die Perspektive der Betroffenen, aber auch eine neutrale Sicht. Denn natürlich bin ich davon betroffen und emotional dabei. Das sind Journalisten nicht. Deshalb müssen sie die Wahrheit schreiben.

Ich gehe in das Gespräch mit der Hoffnung, dass die Journalisten ihre Arbeit für die Öffentlichkeit machen. Denn dafür sind sie da. Ich würde mir wünschen, dass mal jemand von einem großen Fernsehsender zur Polizei geht und fragt, wie die [in Hamzas Obduktionsbericht] schreiben können, dass mein Sohn keine Angehörigen habe. Wie können die so etwas machen? Man müsste die Behörde mal mit dieser Tatsache konfrontieren und fragen, ob das Alltag bei ihnen ist.”

Das sagt Yvonne Backhaus-Arnold

„Wenn ich Ihre [Armin Kurtovićs] Worte lese, schäme ich mich für ‚meine’ Branche, vor allem für die Kollegen, die so gearbeitet haben, wie Sie es beschrieben haben. Dafür bin ich kein Journalist geworden. Mich ärgert die Unsauberkeit, mich ärgern die Methoden. Aber es ärgert mich auch, wenn Sie so wenig zwischen gutem und schlechtem Journalismus unterscheiden. Auf unsere Arbeit beim Hanauer Anzeiger bin ich nach wie vor stolz, sie war sauber – jederzeit. Wie sehen Sie unsere Berichterstattung?

Am 20. Februar waren wir in der Redaktion völlig überfahren von dem Ausmaß der Geschehnisse. Ich erfuhr am frühen Morgen kurz nach fünf, dass in der Nacht mehrere Menschen in Hanau erschossen worden sind. Dass es ein Anschlag war und welche Dimension er hatte, war da noch keinem klar.

Ich richtete eine WhatsApp-Gruppe mit der Redaktion und freien Fotografen ein, um die Arbeit zu verteilen. Ein Kollege aus dem Spätdienst und unser Chefredakteur waren noch in der Nacht an den Tatorten. Wir hatten aber einfach nicht genug Personal, um online direkt live berichten zu können. Wir haben das komplette Tagesgeschäft auf Eis gelegt und unsere Redakteure über die Stadt verteilt. Am nächsten Tag sollte alles im Blatt und auf der Homepage stehen, was Hanauer über den Anschlag wissen mussten.

Das war eine große organisatorische Aufgabe, die uns alle aber auch emotional angefasst hat. Auch deshalb haben wir uns entschieden, es zu respektieren, wenn Angehörige und Betroffene keine Öffentlichkeit wollten. Wir haben an keinen Türen geklingelt und niemandem Geld für ein paar Aussagen geboten. Denn im Gegensatz zu den Kollegen aus aller Welt gehört unsere Zeitung zu Hanau. Wir sind hier und wir bleiben auch hier, wenn alle anderen Medien wieder gehen.

Wir waren also immer vor Ort und haben mit den Menschen gesprochen. Wir haben in unserer Berichterstattung versucht, den Opfern und ihren Familien Raum zu geben und nicht die Perspektive des Täters einzunehmen. Wir waren bei den Trauerfeiern, wir haben die muslimischen Totengebete begleitet. Wir haben uns externen Rat geholt, haben uns die Trauerriten erklären lassen, weil wir in der Redaktion schlicht nicht wussten, wie sie ablaufen. Es war komisch zu merken, dass wir in Hanau so nah beieinander leben und trotzdem so weit voneinander entfernt sind. Wir wollen jetzt stärker mit den verschiedenen Communities der Stadt in Kontakt kommen. Unsere Berichterstattung nach dem 19. Februar soll auch zeigen, wie vielfältig das Leben in Hanau ist.

Morgen würde ich gerne von Ihnen erfahren: Was wünschen Sie sich von den Medien, wenn sie heute über den 19. Februar berichten?”

Die Begegnung

Die Kameras laufen noch nicht, da hat Armin Kurtović schon die erste Frage an Yvonne Backhaus-Arnold. Ein Leserbrief im Hanauer Anzeiger vom Vortag hat ihn wütend gemacht. Der Verfasser kritisiert die Entscheidung der Stadt, den Opfern des 19. Februar Ehrenplaketten zu verleihen: Der Täter sei „offensichtlich geistesgestört”, die Opfer seien „lediglich” zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Kurtović kann nicht nachvollziehen, wie es eine solche Meinung in die Zeitung schafft. Backhaus-Arnold sagt, es sei die Pflicht von Journalist*innen, alle Positionen einer Debatte abzubilden.

Das Gespräch zum Nachlesen

Yvonne Backhaus-Arnold: Hallo.

Armin Kurtović: Hallo.

Backhaus-Arnold: Vielleicht sage ich Ihnen mal kurz, wer ich bin. Mein Name ist Yvonne Backhaus, ich komme gebürtig aus der Nähe von Erfurt und bin jetzt seit fast 18 Jahren hier in Hanau. Beim Hanauer Anzeiger.

Kurtović: Ich bin Armin Kurtović. Ich bin in Deutschland geboren. Ich bin hier aufgewachsen, ich bin hier zur Schule gegangen. Meine Kinder sind auch hier geboren. Ich bin Vater von vier Kindern. Drei leben noch. Mein Sohn Hamza wurde am 19.2. in Hanau ermordet.

Backhaus-Arnold: Ich habe Ihre Tochter sprechen hören, auf der Trauerfeier. Das fand ich sehr bewegend. Ich würde gern mal wissen, wie Sie das erlebt haben – die Berichterstattung am 19. Februar und danach. Vielleicht auch unsere. Vielleicht haben Sie auch gar nicht differenziert zwischen großen Zeitungen und kleinen. Oder Zeitungen hier und Fernsehen und Hörfunk, keine Ahnung.

Kurtović: Ich sage es Ihnen ganz offen und ehrlich. Ich hab diese – oder wir alle haben in diesen ersten paar Tagen keinen Kopf gehabt für so etwas. Man stand unter Schock. Man registriert gar nichts. Die Menschen kommen, das Haus ist voller Leute. Man registriert gar nichts. Dann kommt einer, bringt eine Zeitung mit und dann guckt man und man weiß wirklich nicht was da …, dass die Opfer da dann noch als Kriminelle dargestellt werden, das ist...

Backhaus-Arnold: Haben Sie denn Journalisten mal direkt angesprochen?

Kurtović: Ich habe den Chefredakteur der Bild Zeitung angerufen und habe ihn so zusammengestaucht. 

[Anm. d. Red.: Herr Kurtović konnte sich nicht an den Namen seines Gesprächspartners erinnern. Auf Anfrage bei BILD hieß es, man wisse nicht, um wen es sich dabei handeln könne, es sei aber davon auszugehen, das Telefongespräch habe stattgefunden. Im Juni traf BILD-Reporterin Daniela Pfeil in Hanau alle Opferfamilien - diese Begegnung hat Armin Kurtović dann aber als sehr professionell erlebt.] 

Kurtović: Und nicht nur ihn. Mein Sohn hatte kein Facebook. Er hatte kein Instagram. Ich weiß nicht, wo sie die Bilder von ihm herhaben. Die veröffentlichen Bilder von ihm. Nicht nur von ihm, von allen Opfern. Und da schreiben die ganz falsche Daten rein. Mein Sohn wäre Kriegsflüchtling gewesen. Er ist 1997 geboren, der Bosnienkrieg war 1995 vorbei. Ich bin auch kein Flüchtling, ich bin hier geboren, ich bin deutscher Staatsbürger. Wie lange ist man eigentlich Immigrant in diesem Land?

Backhaus-Arnold: Das weiß ich nicht, das kann ich Ihnen nicht sagen, ich bin keiner. Ich kann Ihnen nur sagen, dass wir als Zeitung festgestellt haben, wie weit weg wir von Ihnen allen sind eigentlich. Also von Ihnen allen oder von Ihrem Hintergrund. Wir wussten von vielen Opfern überhaupt nicht … wir können die Sprache nicht …

Kurtović: Wir reden doch alle perfekt Deutsch.

Backhaus-Arnold: Ja, Sie reden gut Deutsch, aber es reden ja nicht alle gleich gut Deutsch. Es gibt einfach kulturell ganz viele Unterschiede. Wir wussten nicht, wie so ein Totengebet abläuft oder wie diese Trauerfeiern ablaufen. Uns haben ganz viele Hintergründe gefehlt. Ganz viel Verständnis für die Kultur. Wissen Sie, was ich meine?

Kurtović: Das kommt daher, weil man Vorurteile hat. Das kommt durch die Medien. Daran sind die Medien Schuld.

Backhaus-Arnold: Das weiß ich nicht, ob man das so generell sagen kann.

Kurtović: Wenn einer was macht, der Murat oder Hassan heißt, dann ist er Terrorist. Ein islamischer Terrorist. Wenn einer Jens oder Markus heißt, dann ist er verwirrt, psychisch krank.

Backhaus-Arnold: Sie meinen einfach, dass die Einordnung falsch ist…?

Kurtović: Die Einordnung komplett. Das fängt in den Behörden an, es geht über die Medien und es endet unten bei den Normalverbrauchern, sag ich jetzt mal. Das endet bei den Normalverbrauchern.

Backhaus-Arnold: Wie hat der Chefredakteur von der Bild Zeitung reagiert als Sie ihn angerufen haben?

Kurtović: Er hat sich da rausgeredet. Freie Journalisten, freie Reporter hätten das bei Facebook-Profilen von den Freunden meines Sohnes runtergezogen und es würde ihm unheimlich leidtun. Dass da sein Alter falsch ist, seine Abstammung, Kriegsflüchtling, dazu konnte er nichts sagen, weil er es nicht wusste. Sogar die Namen haben sie falsch geschrieben.

Backhaus-Arnold: Ja. Ja, das ist mir auch aufgefallen. Ich weiß nicht, ob Sie sich erinnern, wir haben am Tag der Trauerfeier eine Titelseite gehabt mit allen neun Opfern.

Kurtović: Ja ich weiß, dann wollten Sie das Bild von meinem Sohn haben.

Backhaus-Arnold: Genau. Und da bin ich aber nicht auf irgendeinen Facebook-Account gegangen, sondern über die Stadt, die mit jeder Familie einzeln – zumindest ist mir das zugesichert worden – abgesprochen hat, dass dieses Foto veröffentlicht werden darf.

Kurtović: Ja, aber da waren die Daten falsch.

[Anm. d Red.: Auf der Titelseite des Hanauer Anzeigers waren am 4.3.2020 anlässlich der zentralen Trauerfeier in Hanau die Fotos und Namen der Getöteten abgedruckt. Auf der Aufschlagseite des Lokalteils standen weitere Angaben, darunter ein falsches Alter von Hamza Kurtović, der nicht 23, sondern 22 Jahre alt war.]

Backhaus-Arnold: Okay.

Kurtović: Da waren die Daten falsch.

Backhaus-Arnold: Das passiert uns in unserem journalistischen Alltag. Können Sie mir jetzt glauben oder nicht. Nicht jeden Tag, aber es passiert uns ganz oft, dass wir Fehler machen. Und dann machen wir, und alle anderen Zeitungen auch, eine Korrektur und sagen: Man hat den Namen falsch geschrieben, oder auf dem Foto steht derjenige links und eben nicht rechts. Man macht eine Korrektur. In dem Fall ist das natürlich total schwierig, weil es ein total sensibles Thema ist und Sie wahrscheinlich mega sauer sind, wenn das da falsch steht. Ich verstehe das auch, dass das doppelt ärgerlich ist.

Wissen Sie, ob die anderen Familien das auch kritisieren und sich auch bei Zeitungen oder Fernsehsendern gemeldet haben, die irgendwie was falsch ...?

Kurtović: Ja natürlich. Das verletzt einen.

Backhaus-Arnold: Ja. Meinen Sie, das ist angekommen bei den Journalisten?

Kurtović: Nein, glaube ich nicht.

Backhaus-Arnold: Haben Sie sich mal gefragt, warum Journalisten so arbeiten, wie sie arbeiten?

Kurtović: Das ist ihr Job. Die verkaufen die Story.

Backhaus-Arnold: Ja.

Kurtović: Ob sie jemanden damit beleidigen oder erniedrigen, spielt für die keine Rolle. Die sollten sich mal ihres Jobs bewusst sein. Was sie damit anrichten. Die sollen ganz einfach neutral berichten. Die müssen nicht das schreiben, was ich will. Aber die sollen auch nicht Sachen niederschreiben, die weit von der Wahrheit weg sind. Die können doch nicht die Opfer als Drogenhändler hinstellen. Prostituierte, Drogenhandel, Glücksspiel. Und die Reporter müssen sich dessen bewusst sein, dass sie durch ihre Artikel die Menschen gegeneinander aufhetzen.

Backhaus-Arnold: Sie glauben, dass die Berichterstattung schuld ist für diesen latenten Rassismus, den es in Deutschland gibt?

Kurtović: Mitverantwortlich - ja. (Und mit Nachdruck:) Mitverantwortlich - ja.

Backhaus-Arnold: Okay.

Kurtović: Man sieht die Plakate „Hanau steht zusammen" oder „Es waren keine Fremden". Für die anderen war das ein Kollateralschaden. Wenn man sich die Geschichte von Vili Paún anguckt, der losfährt, den Täter stoppt, beschossen wird und trotzdem hinterher fährt. Vier Mal die Polizei anruft und nicht durchkommt und am Ende mit seinem Leben bezahlt. 

[Anm. d. Red.: Das Mobiltelefon des getöteten Vili Paún zeigt fünf ausgehende Anrufe an die Polizei, unmittelbar nachdem am Hanauer Heumarkt die ersten Schüsse gefallen waren. Zweimal hat er sich vertippt, dreimal wurde nicht abgenommen. Was genau danach geschah, ist noch unklar. Angehörige vermuten, er sei dem Attentäter hinterher gefahren.]

Backhaus-Arnold: Ja.

Kurtović: Würde er Jens oder Markus heißen, würden sie ihm ein Denkmal bauen, auf dem Marktplatz. Aber er ist ja ‚keiner von uns‘. Deswegen frage ich immer: Sind wir ein Teil davon oder sind wir es nicht?

Backhaus-Arnold: Also für mich sind Sie das alle, ich weiß halt nicht, ob das für alle Hanauer gilt. Ich kann ja nicht für eine Gruppe X sprechen.

Kurtović: Ich weiß, aber Sie müssen sich einer Sache bewusst sein: Wenn Politiker Reden halten und solche Sachen von sich geben: Kopftuchmädchen, alimentierte Messermänner, die Kriminalität und das Böse kommen mit der Migration. Öffentlich. Und die Reporter schreiben darüber. Dass man diese Grenze verschiebt.

Backhaus-Arnold: Ja, das ist definitiv so.

Kurtović: Und was die Polizei angeht: die Leichenbeschauung meines Sohnes. Es kommt der Polizist um 01:15 Uhr. Er beschreibt ihn als orientalisch südländisch. Dunkelblond, blauäugig, hellhäutig! Er beschreibt seinen Namen und seinen Nachnamen. Und um das alles noch schlimmer zu machen, schreiben die rein: „Widerspruchsberechtigter gegen die Obduktion nicht bekannt".

Backhaus-Arnold: Okay.

Kurtović: Haben die gedacht, ein Storch hat ihn gebracht oder ist er mit dem Schlauchboot gekommen? Weil er so heißt, muss er mit dem Schlauchboot gekommen sein. Das ist behördlicher Rassismus. Und das muss angeprangert werden. Von Ihnen aus.

Backhaus-Arnold: Ja. Dafür müssen wir aber sprechen – haben wir bisher aber nicht getan. Ist ja heute das erste Mal. Ich habe über Herrn Ilkhan zwar jetzt einen Zugang …

[Anm. d. Red.: Ferdi Ilkhan, Mitglied des Ausländerbeirats der Stadt Hanau und erster Vorsitzender des Instituts für Toleranz und Zivilcourage - 19. Februar Hanau e.V.] 

Kurtović: Sehen Sie, Ihr Vorgehen ist schon falsch.

Backhaus-Arnold: Ja?!

Kurtović: Ihr Vorgehen ist schon falsch. Ich bin deutscher Staatsbürger und Sie müssen über den Ausländerbeirat an mich herantreten. Verstehen Sie mich?

Backhaus-Arnold: Ja.

Kurtović: Die Polizei schickt mir einen Migrationsbeauftragten, der nicht mal in Deutschland geboren ist, und der erklärt mir, was das deutsche Gesetz ist.

Backhaus-Arnold: Ja, okay. Ich sehe Ihren Punkt.

Kurtović: Sie grenzen uns aus.

Backhaus-Arnold: Nee, das wollen wir gar nicht, wir wollen Sie gar nicht ausgrenzen. Ich hätte mir zum Beispiel gewünscht, wenn Sie sagen, Sie sind der Sprecher der Familien, dass man einfach auch mal zur lokalen Zeitung hier vor Ort geht und sagt, lassen Sie uns doch mal einen Interviewtermin machen. Und wenn wir ein Skypeinterview geführt hätten. Irgendwas. Dass man sich einfach mal kennenlernt und sagt: Das sind wir, und wir haben die Probleme bis heute, mit Behörden und mit Dingen, wie sie da passiert sind, und ja, uns fehlen immer noch Informationen zum Beispiel. Sie glauben doch nicht, wenn wir als Hanauer Anzeiger anfragen beim Generalbundesanwalt, was wir mehrfach getan haben, dass wir irgendeine Aussage gekriegt hätten. Nie. 

Kurtović: Das glaube ich. 

Backhaus-Arnold: Auch hier von der örtlichen Polizei. Es gab keine Informationen. Der eine hat auf den anderen verwiesen, und das war total schwierig.

Backhaus-Arnold: Eigentlich ist es so, dass man den Vorwurf natürlich auch an die Polizei mit herantragen muss. Die Presse kann nur das schreiben, was sie gesagt bekommt und dann entsprechend verifizieren kann. Da sind natürlich staatliche Behörden wie die Polizei unsere ersten Ansprechpartner.

Kurtović: Stellen Sie sich mal vor, Ihr Sohn wäre da drin gewesen. Können Sie sich das vorstellen? Dass er irgendwo hingeht und erschossen wird? Nein?

Backhaus-Arnold: So wie Sie sich das wahrscheinlich auch nicht vorstellen konnten bis zum 19. Februar.

Kurtović: Nein. Und die Umstände: Wieso so viele Tote? Wenn Sie das alles wissen, dann werden Sie aufhören, in diese Behörde noch Vertrauen zu haben. Liegt es jetzt nicht an Ihrem Beruf, an Ihrer Branche sage ich jetzt mal, da nachzuhaken und zu fragen? Beim Generalbundesanwalt mal nachzufragen, was ist passiert? Wer hat geschlafen? Ich komme nochmal zur Wurzel. Jahrelang, die letzten Jahre lang: „Shisha-Bar, „Clan-Kriminalität“, „Migranten“. Das ist bei den Menschen schon so tief im Gehirn drin, dass alles, was Shisha-Bar ist, kriminell ist. Da muss was Kriminelles drin sein.

Backhaus-Arnold: Ja.

Kurtović: Würde man den Rassismus so anprangern wie die Shisha-Bars, ich unterschreib es Ihnen jetzt, würde es in fünf Jahren keine Rassisten mehr geben. 

Backhaus-Arnold: Meinen Sie, die Medien sind schuld, dass wir so ein Gesellschaftsbild haben? Oder dass unsere Gesellschaft so ist, wie sie ist?

Kurtović: Die Medien sind diejenigen, der Leitfaden der Moral, sag ich jetzt mal. Jeder guckt Fernsehen, Nachrichten. Die Presse ist dafür da. Der Journalismus und die Menschen, die Öffentlichkeit zu informieren. Oder sehen Sie das anders?

Backhaus-Arnold: Nein, da bin ich vollkommen bei Ihnen. 

Kurtović: Wir verlangen eine lückenlose Aufklärung. Die sagen alle, jeder Politiker, der kommt, sagt: „Was können wir ändern?“ Moment. Gucken wir erst einmal, wo die Fehler passiert sind. Und dann kann man das reparieren. Sie können keine Uhr reparieren, wenn Sie nicht wissen, was kaputt ist. Da sind wir uns ja einig.

Backhaus-Arnold: Ja.

Kurtović: Und die Wahrheit muss raus! Wer versagt hat! Wieso es so weit kommen konnte! Und das muss repariert werden, damit es in Zukunft nicht mehr passiert.

Backhaus-Arnold: Ich würde mir total wünschen, dass wir zum Beispiel in Kontakt blieben. Auch mit den anderen Opferfamilien. Dass man einfach sagt, man hat kurze Wege, man tauscht sich einfach mal aus, man bleibt in Kontakt. Dass man daran arbeitet, dass man am Ende die Wahrheit veröffentlichen kann. Das wäre meine Wunschvorstellung.

Kurtović: Genau so ist es. Genau so ist es.

Im Café „La Votre” sind am Tag des Anschlags zwei Menschen gestorben. 

Der Rückblick

Ein paar Tage nach der Begegnung habe wir beide Gesprächspartner*innen gebeten, das Treffen noch einmal zu reflektieren. Wie haben sie den Austausch erlebt? Stellvertretend für Armin Kurtović hat uns Ajdin Talic seine Meinung zum Gespräch mitgeteilt – nicht als Mitglied des Ausländerbeirats der Stadt Hanau oder Co-Initiator des Hanauer Instituts für Toleranz und Zivilcourage, sondern als enger Vertrauter der Familie Kurtović. Beim Treffen mit Yvonne Backhaus-Arnold war Ajdin Talic als Begleitung von Armin Kurtović bereits mit dabei.

Sprachmemo von Ajdin Talic:

Und von Yvonne Backhaus-Arnold: 

Die Rückblicke zum Nachlesen

Das sagt Ajdin Talic:

„Hallo zusammen,

Ich finde es gut, dass wir und vor allem Herr Kurtović die Möglichkeit bekommen haben, die Sicht auf die Presse und all diese Sachen noch einmal zu reflektieren. Was ich jetzt seit dem 19. Februar in Hanau erlebt habe, ist ziemlich schlimm. Es gab ja auch wirklich gute Reporter, die wirklich sensibel waren und die wirklich wussten, was sie wollten. 

Aber es gab auch eine so große Masse an aggressiven Reportern, die einfach eine Story machen wollten. Denen war es wirklich piepegal, mit wem oder wo sie sprechen. Hauptsache sie haben Angehörige, Zeugen oder einfach Menschen, die etwas zu sagen haben. 

Insgesamt bin ich sehr enttäuscht von der Presse. Nicht nur von der nationalen, sondern auch von der internationalen Presse. Ich finde sehr gut, was Sie machen, dass Sie uns nochmal angesprochen und so ein super Interview mit Herrn Kurtović geführt haben. Auch das Gespräch mit der Dame vom Hanauer Anzeiger fand ich gut. Denn mit ihren Berichten war ich auch nicht immer zufrieden, muss ich Ihnen ganz offen und ehrlich sagen. Also da geht es nicht nur um den 19. Februar, sondern auch um das Allgemeine.

Ich danke Ihnen nochmal, dass Sie das gemacht haben und sich um solche Sachen kümmern. Denn das gibt uns die Perspektive, dass Journalismus auch gut sein kann. Und am 19.6., 19.7., 19.8. – sobald ein Reporter da ist und die Angehörigen an diesen Tagen immer wieder angefragt werden, dann müssen die Familien alles immer nochmal neu erleben. Sie kämpfen damit, alles zu sagen, sie wollen auch, dass die Wahrheit rauskommt, gar keine Frage. Aber ich sehe auch, dass die Familien mit jeder neuen Anfrage, diese Probleme wieder haben werden.”

Das sagt Yvonne Backhaus-Arnold:

„Hallo,

dann schicke Ich Ihnen jetzt mal meine Nachbetrachtung zu unserem Termin im Rathaus mit dem Herrn Kurtović per Voice sozusagen.

Ich fand die Begegnung mit dem Herrn Kurtović sehr intensiv. Vielleicht lag das auch am Rahmen. Dass man sich einfach mehr als eine Stunde gegenüber saß und Gelegenheit hatte zum Sprechen. Vielleicht lag es auch einfach an der geschaffenen Nähe, die man sonst nicht hat, wenn man sich auf der Straße oder auf einem Platz begegnet und dann möglicherweise noch andere Medienvertreter dabei sind. Dann kommt man nicht so ins Gespräch wie in dieser Situation. Deshalb war das sehr intensiv.

Was ich schwierig fand, war einfach diese Emotionalität. Dadurch, dass Herr Kurtović einfach extrem viele Hintergründe kennt, und dadurch, dass er ein direkt Betroffener ist – also tatsächlich der Vater eines der Ermordeten. Das hat es mir manchmal ein bisschen schwer gemacht. Ich fand es insgesamt sehr gewinnbringend für beide Seiten. Ich hoffe, dass wir den Kontakt halten. Also sowohl zum Ausländerbeirat als auch zur Initiative, also dem Verein, aber auch zu den Familien. Und es entsprechend in der Berichterstattung weiter begleiten können, um zu zeigen, dass wir das ernst nehmen und zur Aufklärung beitragen wollen.

Und was mir ganz bewusst geworden ist, da habe ich abends auch mit meinem Mann und Freunden darüber gesprochen: wie nahe den Familien doch die Berichterstattung gegangen ist. Wie nahe ihnen auch die Fehler gegangen sind. Und wenn es nur ein falsches Alter ist, was man in anderen Situationen vielleicht einfach wegatmen kann. Das ist in dieser Situation einfach doppelt schwierig. 

Und mir hat es gezeigt, dass man einfach noch viel viel genauer arbeiten muss, wenn man sieht, wie wichtig es ist, dass man ordentlich arbeitet und jedes Detail im Blick behält. Das ist in dieser Situation einfach noch wichtiger als in anderen Formen der Berichterstattung. Ich bin dankbar, dass ich die Möglichkeit zum Austausch in dieser Form oder auf dieser Metaebene hatte. Ich habe viel mitgenommen und hoffe, dass ich das in meinem Arbeitsalltag in irgendeiner Form umsetzen kann.”