#imgespräch

Webstory für besseres Berichten
bei rassistischen Hassverbrechen

Zwischen dem Beginn der Recherchen für dieses Projekt und der Veröffentlichung lagen nur acht Wochen. Wir, die Autor*innen, hatten also nicht viel Zeit, Vertrauen bei den Betroffenen aufzubauen, deren Perspektive wir Raum geben wollten. Um sie nicht unter Druck zu setzen, haben wir uns in Hanau an Opferberatungsstellen und -initiativen gewandt. Der Kontakt mit Armin Kurtović war nur über diese Vermittler*innen möglich. Max Privorozki aus Halle haben wir aufgrund seiner Funktion als Vorsitzender und Sprecher der jüdischen Gemeinde direkt kontaktiert.

Aus den Begegnungen der Betroffenen mit den Journalist*innen in Halle und Hanau sowie aus Hintergrundgesprächen mit Celine Sturm, Dunja Ramadan, Damian Groten, Sheila Mysorekar und Vural Ünlü haben wir Erkenntnisse für eine bessere Berichterstattung über Hassverbrechen und über Betroffene von Hassverbrechen gewonnen, die wir im Folgenden weitergeben möchten. Es sind Hinweise, die Journalist*innen bei einer sensiblen Berichterstattung helfen sollen.

Indes zeigt unser Projekt, wie unterschiedlich die Wahrnehmungen, Kritik, Wünsche und Bedürfnisse der Betroffenen sind und wie unterschiedlich sie selbst mit der erlebten Gewalt umgehen: Einige sind hauptsächlich traurig, andere vor allem wütend, wieder andere versuchen, einfach weiter zu machen und zu funktionieren. Daher können unsere Erkenntnisse auch nicht alle Perspektiven umfassen und sind keine Garantie dafür, in der Berichterstattung alles richtig zu machen.

Tipps für die Recherche

Aussagen der Polizei und anderer Behörden sind nicht unantastbar. Trotzdem werden sie von Journalist*innen oft unkritisch übernommen. Dabei wird die Perspektive der Betroffenen vernachlässigt. 

Auch wenn die Zeit drängt, sollten Journalist*innen sich vor ihrer Berichterstattung immer über den Ort und seine Menschen informieren – zum Beispiel, was der jüdische Feiertag Jom Kippur bedeutet.

Journalist*innen sollten sich bewusst machen, dass Angehörige und Betroffene keine uniforme Gruppe sind. Jede*r Betroffene hat eine eigene Perspektive. Je größer die Gruppe der Betroffenen, desto unterschiedlicher können die Reaktionen ausfallen.

Der Kontakt mit Betroffenen

Journalist*innen hinterlassen Spuren bei jeder Kontaktaufnahme. Sie überschreiten oft persönliche Grenzen und tun das teilweise unsensibel und rücksichtslos – das haben unsere Gespräche mit den Betroffenen gezeigt. Vermittlungspersonen können bei der Kontaktaufnahme helfen und die Anfragen weiterleiten. Gute Ansprechpartner*innen sind Opferschutzstellen, Psycholog*innen, Anwält*innen oder Menschen aus den betroffenen Communities. 

Vorrang haben die Bedürfnisse der Betroffenen, zum Beispiel bei der Wahl des Orts, einer Begleitperson, der Länge des Interviews und Gesprächspausen. Es muss auch klar sein, dass bei zu großer Belastung ein Gespräch komplett abgebrochen werden kann. Wichtig ist, transparent zu machen, worum es dem/der Journalist*in beim Thema geht, wofür das Interview gedacht ist, wie der Beitrag am Ende aussehen soll und welche Gesprächsinhalte im Zweifel nicht in der Veröffentlichung enthalten sein werden. Für die Betroffenen sind diese Informationen wichtig, um abzuwägen, ob sie mit den jeweiligen Medien sprechen möchten. 

Während des Gesprächs sollte klar sein, was gerade passiert und was geplant ist. Die Betroffenen sollten das Gefühl haben, gehört zu werden. Kontrollverlust kann bei ihnen eine Retraumatisierung auslösen. Beim Gespräch und in der Berichterstattung können bestimmte Begriffe und Wörter ein falsches Gefühl vermitteln: Das Wort „Opfer" macht Menschen beispielsweise zu hilflosen Objekten, das Wort „Betroffene" ist dafür besser.

Das Vorgehen in der Berichterstattung

Betroffene brauchen Zeit. Bekommen sie diese nicht, werden sie zusätzlich belastet. Deswegen ist es zum einen wichtig, dass sich Journalist*innen ausreichend Zeit nehmen, um sich ausführlich mit der Thematik auseinanderzusetzen, und zum anderen, dass sie den Protagonist*innen ausreichend Bedenkzeit gewähren und wenn nötig auch mehrere Vorgespräche anbieten. So können Betroffene Vertrauen entwickeln und ein Verständnis für die Hintergründe und Strukturen journalistischer Arbeit bekommen. 

Oft kommt es zu Missverständnissen, wenn Aussagen der Protagonist*innen umgedeutet oder in einen anderen Kontext gesetzt werden. Eine Autorisierung der Aussagen im fertigen Beitrag kann das verhindern. 

Um die Betroffenen zu schützen, kann eine Anonymisierung für Namen, Bild und Ton angeboten werden. 

Die Berichterstattung und Bilderauswahl sollten keine Stereotypen reproduzieren. Journalist*innen sollten auf sensible, rassismuskritische Sprache achten. Außerdem muss deutlich zwischen einem Kommentar und einem Bericht unterschieden werden.

Anstatt zu fragen, „Wie haben Sie die Situation erlebt?” und so die Betroffenen wieder mit ihrer Ohnmacht zu konfrontieren, können Journalist*innen sich auf die aktive Rolle der Betroffenen fokussieren. Das gelingt beispielsweise mit Fragen wie: „Wie haben Sie es geschafft, das zu überstehen?”

Und dann?

Weiterbilden, weiter berichten! Journalist*innen sollten sich langfristig mit den Themen, Protagonist*innen und den Communities auseinandersetzen, die von Hassverbrechen direkt betroffen sind. Es ist wichtig zu verstehen, dass Themen, die nicht der eigenen, meist weißen Lebensrealität entsprechen, für sehr viele andere Menschen trotzdem relevant sind. Menschen mit Migrationsgeschichte müssen zu Wort kommen. Auch dann, wenn es nicht um Rassismus(-erfahrungen), Hassverbrechen oder beispielsweise den Islam geht. 

Betroffene haben uns von dem Gefühl berichtet, niemand interessiere sich für das, was sie erlebt haben – wenn nicht gerade ein bestimmter Anlass oder Jahrestag ist. Journalist*innen sollten sich um eine langfristige und differenzierte Debatte über gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus, LGBTQI*-Feindlichkeit und Sexismus bemühen. Für Betroffene und Mitglieder der Communities können Treffen, Gespräche und Interviews mit Journalist*innen auch eine Chance sein, selbstwirksam und aktiv Teil eines gesellschaftlichen Sensibilisierungsprozesses zu sein.